Wenn Heidelbeeren fast schon göttlich sind
«Weinberge, lauter Weinberge», denke ich, als wir durchs Dorf Campascio in der Valposchiavo fahren. Doch bei näherem Hinschauen wird klar: Das sind keine Reben. Es sind Beerenpflanzen, die im Dorf auf vielen kleinen Feldern wie Weinberge gepflegt werden. Sie sind der Grund, weshalb wir hier sind. Wir besuchen den kleinen Puschlaver Produktionsbetrieb «Piccoli Frutti».
Vor 20 Jahren hat sich Nicolò Paganini (50) im Tal aufgewachsen, auf den Anbau von Beeren spezialisiert, die er frisch aber auch verarbeitet verkauft. «Ich hatte als Gemüsehändler in Zürich zwei Dinge erkannt», erzählt er, «erstens, dass ich nicht der Händlertyp bin und zweitens, dass Beeren im Trend sind». Und so kam er nach zwei Jahren in Zürich zurück in sein Heimatdorf, wo schon sein Vater und Grossvater als Gemüsehändler aktiv waren. Papa Franco, 81, ist immer noch präsent im Betrieb und erinnert sich an früher: «Mein Vater fuhr noch mit Pferd und Wagen über den Berninapass.» Drüben waren Gemüse und Früchte aus dem Puschlav begehrt, das Tal galt gar als der Gemüsegarten des Engadins, weil das Klima hier milder, südlicher ist.
Ein Überbleibsel aus dieser Zeit sind unzählige mit Trockenmauern eingefasste Terrassen am Dorfrand, bis hoch hinauf am Hang gehen sie. Als Paganini zurückkam, begann er, diese für den Beerenanbau zu nutzen. Aber auch Gärten und kleine Felder von Nachbarn durfte er bepflanzen. «Das Schöne war, dass diese vor allem in der Anfangszeit jeweils auch bei der Ernte mitgeholfen haben», sagt der Bergbeerenpionier.
Die Lage seines Dorfes sei perfekt für die Kulturen, so Paganini. Das Puschlav ist kein nach Süden ausgerichtetes und topbesonntes Tal. Aber Beeren, so Paganini, bräuchten auch gar nicht den ganzen Tag Sonne. Nicht umsonst hiessen sie auf italienisch «frutti di bosco», also Waldfrüchte. Einen lockeren, sauren Boden brauchen sie. Und den gibt es in Campascio, weil gemäss Paganini hin und wieder auch Erde vom Wald oberhalb des Dorfes heruntergeschwemmt wurde.
Sogar von einem Wunder erzählt Nicolo Paganini, als er uns zu seinen Heidelbeeren führt. Heidelbeeren? Es sind tatsächlich Sträucher so hoch wie kleine Bäume und voll mit Früchten behangen. Normalerweise gebe ein Heidelbeerstock zwei Kilogramm Beeren preis pro Jahr, hier seien es aber fünf Kilo, ist Paganini begeistert. Der Heidelbeer-Garten ist eindrücklich.
Der Boden ist so gut für Heidelbeeren, dass es für mich einfach ein Wunder ist.
Nicolo Paganini
Und hier kommt eben das Wunder ins Spiel. Das Wunder, das einst mit einer Tragödie begann. Vor hunderten Jahren gab es nämlich einen grossen Erdrutsch. Ein ganzer Teil vom Wald am Berg oben, das sieht man noch heute, landete weiter unten im Tal und füllte eine Erdvertiefung. Für die Bewohner – man weiss nicht, ob auch Menschen zu Schaden gekommen sind – damals offenbar eine Katastrophe. Sie fühlten sich von ihrer damaligen Dorfheiligen «Santa Agatha» im Stich gelassen. Und ersetzten sie mit «Sant Antonius».
Doch seit diesem Jahr wurde sie – offiziell von der Kirche – wieder als Dorfheilige anerkannt, wegen der Heidelbeeren. «Der Boden ist so gut für Heidelbeeren, dass es für mich einfach ein Wunder ist», sagt Paganini. Tatsächlich sind etwas weiter unten die gleichen Sorten nur halb so hoch gewachsen.
Aber auch abgesehen von Wundern und Erdrutschen und der optimalen geografischen Ausrichtung scheint das Puschlav der perfekte Ort für Beeren zu sein. Es ist warm und es geht oft ein Wind, der nach Regen dafür sorgt, dass die Stauden und Beeren rasch abtrocknen und Schimmelpilze oder Mehltau eher weniger auftreten als anderswo. Ganz weg bleiben die Feinde der Beeren aber nicht. Und das ist auch der Grund, weshalb Paganini noch nicht ganz biologisch wirtschaftet. «Herbizide, Pestizide, darauf verzichten wir komplett, aber wir haben bislang gegen Pilze und Mehltau noch gespritzt», erklärt er.
Doch nun möchte er komplett auf Bio umstellen. Seine Hoffnung ist ein neuartiges Mittel, welches mit gezüchteten Pilzsporen den Schimmelpilz bekämpft. Paganini hofft, dass es bald nicht mehr nur für Erdbeeren, wie bislang, sondern auch für andere Kulturen zugelassen wird. Und wenn nicht? «Dann müssen wir einfach noch fleissiger die reifen Beeren ernten», sagt Paganini.
Diesbezüglich hat sich in den letzten Jahren sowieso einiges geändert, denn auch hier, im Tal, kennt man die Kirschessigfliege, einst eingeführt aus Asien, die bevorzugt Kirschen und rote Beeren befällt und sich seit Jahren in der Schweiz ausbreitet. Da sie ihre Eier in reife Beeren legt, wird bei Piccoli Frutti heute, um schneller zu sein als die Fliege, doppelt so oft geerntet wie früher. Die Folge: «Die jeweilige Erntemenge hat sich halbiert, weil natürlich weniger Früchte reif sind», so Paganini.
Trotzdem bereiten die süssen Roten Paganini sichtlich Freude. Er hat sich hier mit der Familie – seine Frau Luisa (46) und er haben drei Kinder (Elisabetta (12), Beatrice (12) und Cosimo (10) – einen Betrieb aufgebaut, der nachhaltig wirtschaftet und ein begehrtes Gut anbietet. Die frischen Beeren vermarktet die Familie regional und ein kleiner Teil wird an die Pro-Montagna-Linie von Coop geliefert. «Immer nur so viel, wie wir haben», ergänzt Paganini.
Es gab weder das Mehl, noch die Tomaten, noch den Mozzarella für eine Valposchiavo-Pizza.
Nicolo Paganini
Das Team von Piccoli Frutti kreiert aber auch eigene Delikatessen. Konfitüre, Sirup, Säfte etwa. Sie werden in der hauseigenen Produktionsstätte zubereitet und verpackt. Der Hofladen bietet eine anschauliche Auswahl an Beeren-Schlemmereien. Auch online können sie geshoppt werden. Und da und dort findet man sie in Delikatessenläden in der Schweiz.
Im Angebot von Piccoli Frutti sind auch ein Sugo und ein Ketchup, hergestellt aus hauseigenen Tomaten. Damit geht Paganini über das Thema Beeren hinaus. Er erzählt, wie das kam. Man arbeite im Tal eng zusammen. Mit dem Label «100 % Valposchiavo» wurde eine Marke geschaffen, die viele Kulinariker im Tal verbindet. Bauern verarbeiten ihre Rohstoffe gleich vor Ort. Und Restaurants kreieren ganze Menus mit fast ausschliesslich Rohstoffen aus dem Tal.
«Der Koch Claudio Zanolari hatte die Idee, eine Valposchiavo-Pizza zu machen», erinnert sich Paganini. «Aber es gab weder das Mehl dazu, noch die Tomaten, noch den Mozzarella.» Weil man hier, im Tal, nicht stehenbleibt, sondern weiterdenkt, ist die Puschlaver Pizza mittlerweile Realität geworden. Paganini eben baut Tomaten an. Freiland sind sie übrigens, und nicht hochgebunden. Eigentlich, so schildert Paganini, pflanzt er sie im Frühling und vergisst sie dann. Irgendwann im August seien die Tomaten dann einfach bereit zum Pflücken – reif und ausgesprochen aromatisch. Weil sie so gut schmecken, hat der initiative Puschlaver kurzerhand begonnen, auch Tomaten selber zu verarbeiten. Sein Ketchup und sein Sugo übrigens sind auch graubündenVIVA regio garantie-zertifiziert.
Langweilig scheint es Paganini nicht zu werden, auch wenn nach der letzten Ernte im Herbst bis im Frühling keine reifen Beeren mehr zu pflücken sind. Und: Noch hat es viele Terrassen oberhalb des Dorfes, die unbebaut sind. Wir kraxeln mit ihm den Berg hoch, wo sich die Wildnis die früheren Gemüsegärten längst zurückerobert hat. Nur die Trockenmauern, hunderte von Jahren alt, stehen noch. «Schon verrückt, was man da geschaffen hat, um etwas Gemüse zu kultivieren», sagt er. Und doch, er hat sich zum Ziel gesetzt, genau das wieder zu tun: nämlich die Terrassen zu bepflanzen und mit zeitgemässen, nachhaltigen Ideen zu beleben.
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